Wie ich erfuhr, dass ich krank bin.
Ein Mutmach-Bericht von Phela.


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Ich habe einen normgerechten Körper. Schon immer: Ich bin keine 180cm groß, meine Körpergröße pendelte sich mit 14 Jahren irgendwo bei 165cm ein, meine Schultern waren schon als Baby eher breiter als schmäler, meine Beine immer eher schon muskulöser, als länger. Aber mein Bauch war schon immer recht flach und egal wieviel ich aß, ich blieb recht unauffällig „normal“. Ich möchte in diesem Text aus der Zeit erzählen, in der ich krank wurde. In der ich mich nicht mehr leiden konnte. In der ich weniger werden wollte. Weniger von mir.

Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, nämlich, dass es so ein gemeines Naturgesetz gibt, das sich „Genetik“ nennt, und das man nur bedingt beeinflussen kann, dann hätte ich mir früher vieles gespart. Selbsthass zum Beispiel. Mich um jeden Willen verändern zu wollen. Hätte ich damals gewusst, dass das Hungern einen anderen Hintergrund hat, als den, alleinig seine Körperhülle reduzieren zu wollen, so hätte ich früher aufgehört. Aber alles von vorne:

Ich war 12. Meine Eltern waren schon seit 6 Jahren getrennt und in regelmäßigen Abständen besuchte ich meine Mutter mit dem Zug (ich wuchs bei meinem Vater auf). Die Beziehung zu meiner Mutter war schon immer angespannt. Die Besuche daher auch eher nicht von entspannter Natur. Ich erinnere mich ganz konkret an einen Kommentar ihrerseits – ich erinnere mich sogar noch genau an die Situation – ist doch verrückt, wie sich etwas scheinbar so Banales auf immer ins Gedächtnis einbrennen kann. Jedenfalls sagte sie zu mir, während ich auf dem Boden saß und gerade dabei war, ein Buch zu lesen: „Du bist ja richtig weiblich geworden.“

Am nächsten Morgen stand ich um 05:00 Uhr auf, zog meine Joggingsachen an und ging ohne Frühstück laufen. Ich lief und lief und lief... ich kam nach Hause, bevor sie wach wurde, ging duschen und machte mir zum Frühstück – nichts.

Ein scheinbar banaler Kommentar änderte von nun an mein Leben, stellte es auf den Kopf, für die nächsten Jahre. Natürlich wissen wir alle, dass der Kommentar nicht der Grund für eine darauf anschließende, 4 Jahre andauernde Essstörung war, aber es war das Öl, das ins Feuer gegossen wurde.

Ich bin jetzt 31. Ich habe die wichtigsten Jahre meiner Jugend mit Hungern und Brechen verbracht. Würde man mich jetzt kennenlernen, würde niemand, aber auch wirklich niemand, vermuten, dass ich mit 15 Jahren in der Drogerie meines Vertrauens Tabletten kaufte gegen meinen Hunger.

Weiß gar nicht mehr, wie sich diese Dinger nennen. Ich weiß, dass sie den Magen aufquellen sollten. Man stelle sich das allein einmal vor, dass es so etwas gibt, und man das einfach so erwerben konnte, aber das ist mitunter ein Grund, warum ich diese Geschichte zum ersten Mal erzähle: um Transparenz in eine oftmals so geheim gehaltene Krankheit zu bringen.

Das Problem mit Essstörungen ist: sie sind schleichend. Man wacht nicht morgens auf und denkt sich: „Ah! So fühlt es sich also an, wenn man essgestört ist!“ Nein, vielmehr lauert sie einem in allen Ecken auf. Statt des morgendlichen Brötchens greift man plötzlich zum Knäckebrot, weil es ja „gesünder“ ist. Man nutzt nicht mehr den Bus zur Schule, sondern steht 2 Stunden früher auf, um das Fahrrad zu nehmen. In der Schule ruckelt man unruhig auf dem Stuhl herum, man kaut – nein, man zerkaut Kaugummi in die kleinsten Kleinteile. Nur um das Gefühl zu haben, etwas zu kauen und weil der Hunger penetranter wird. Er drängt sich auf, er sagt „Mädchen, du hast heute noch nichts gegessen, wie wäre es mal mit einem Sandwich?“ Aber anstatt zu sagen „Klar, kriegst du“, verzieht man sich beim Klang des Pausengongs gleich aufs Klo. Man bleibt dort, bis die Pause zuende ist, um dann bei Pausenende unbemerkt wieder ins Klassenzimmer zurück zu huschen. Es fühlt sich fast ein bisschen aufregend an, so ein neues Geheimnis. Dessen Folgen und Regeln man sich noch gar nicht bewusst ist.

Ich war immer ein Mädchen mit nicht wenigen Freunden. Meine besten 3 Freundinnen und ich waren ein eingeschweißtes, sehr enges Team. Daher fiel das fehlende Glied der Kette auch schnell auf: mein Versuch, mich täglich auf dem Damenklo zu verstecken, bis die Stunde weiterging, nur um nicht mit Essen konfrontiert zu werden bzw. um Gottes Willen nicht gefragt zu werden, was man denn essen würde, fiel bald auf. Aber – hallo westliche Zivilisation! - wenn man dann zugab, eine kleine Diät machen zu wollen, fanden das alle nur super. „Wie toll, verrätst du uns, wie du es schaffst, so wenig wie möglich zu essen?“ Und schnell wurde man zur Heldin, teilte Tipps und Methoden, den Körper auszutricksen. Aber heimlich war man viel weiter: es war ein eigener Wettstreit, den man mit sich selbst eingegangen hatte. Es ging nicht darum, ein paar Kilos zu verlieren. Schnell geriet man durch das Andauern des stetigen Hungers in eine Art Extase. Und das machte süchtig. Adrenalin – eine, wie ich heute weiß, absolute Panikreaktion des Körpers bei zu wenig Nahrungszufuhr. Aber damals: einfach nur großartig.

Die Knäckebrote, die es morgens gibt (3), werden ausgetauscht durch Gurke (1) mit Salz. Viel Salz. Sowieso auf alles Salz. Das Mittagessen (Salat und eine Scheibe Brot), wird ausgelassen. Stattdessen Joggen, Joggen, Joggen. Wasser. Literweise Wasser, um das Hungergefühl zu übertönen. Die Kleidung, die nach wenigen Wochen schlabbert, wird nicht durch enger anliegende, neue Kleidungsstücke ersetzt, sondern vielmehr wird die neue, schmalere Körperform mit einer Art Zwiebellook vertuscht. Komplimente à la „Wow, siehst du gut aus! Hast du abgenommen?“ werden mit einem verlegenen „Keine Ahnung“ schnell beantwortet.

Eigentlich will man nicht angesprochen werden auf dieses intime Geheimnis. Es ist etwas, das nur mir gehört. Etwas, das ich bestimmen kann, kontrollieren kann. Etwas, das mir niemand nehmen kann.

Wenn ich an diese Zeit denke, denke ich: Manie. Ich zählte nicht nur wie besessen Kalorien, schrieb sie auf, versuchte unter der Dusche wie vom Teufel besessen durchzurechnen, wie ich auf noch weniger Kalorien pro Tag kommen und wo noch eingespart werden könnte. Das leichte Frösteln, das sich nun dauerhaft einstellt, die Kälte, das Frieren, wird mit einer weiteren Zwiebelschicht ruhig gestellt.

In dieser Zeit ziehe ich mich stark zurück. Menschen, die mir lieb sind, stoße ich vor den Kopf – damals nicht absichtlich, aber im Nachhinein scheinbar logisch - um mit der neuen besten Freundin alleine sein zu können: Der Anorexie.

Leider – und das sage ich betont ironisch – bleibt so eine Krankheit nicht unbemerkt. Die siebte Zwiebelschicht an Klamotten wird irgendwann lächerlich. Die Knochen an den Handgelenken, die Wangenknochen im Gesicht, die ausfallenden Haare, das ständige Fernbleiben von größeren Ansammlungen von Menschen, und Essens-Situationen fällt auf. Und das störte mich. Ich verstrickte mich immer weiter in Lügen und Ausreden – nicht nur vor Freundinnen und Freunden, sondern vor der eigenen Familie. Ich lebte ein Doppelleben. Und wäre das nicht schon anstrengend genug, ja, ein Balance-Akt, sich nicht zu verraten, so wurde ich dessen auch immer müder. Ich wollte nicht mehr Versteckspielen. Ich erinnere mich daran, dass ich mit meinem Vater eine Wand in meinem damaligen Kinderzimmer farbig strich. Ich klappte einfach so zusammen während der ersten Pinselstriche. Mein Körper wollte keine Energie mehr hergeben, und brach unter sich zusammen. So stürzte nicht nur meine äußere Fassade ein – mein Vater sah mich zum ersten Mal fast ohnmächtig und es wurde ihm bewusst, was los war – auch ich wurde durch dieses Erlebnis wachgeschüttelt. Ich merkte, dass der Hass gegen meinen eigenen Körper, der mich ja trägt, der mein wahrer bester und einziger Freund in dieser für mich sehr schweren Zeit war, ja, dieser Hass, das falsche Ventil war. Ich fing an, mich nach Monaten des Hungerns, und der bloßen manischen Selbstaufgabe, wieder zu reflektieren. Plötzlich war da wieder diese Stimme in mir. Die mich von außen wahrnehmen konnte. Die mich fragte:
„Für wen machst du das?“ Die mich fragte „Was fehlt dir wirklich? Und ich meine nicht, Essen“ - die mir Fragen stellte, die ich jahrelang unter den Tisch gekehrt hatte. Ich stellte mich diesen Fragen und begann, meinen Kummer und meine tiefe Trauer aufzuschreiben. In Tagebüchern, die wie Bücher endeten, ich schrieb und schrieb und schrieb. Ich beschrieb die große Traurigkeit über die Trennung meiner Eltern, den Auszug meiner Schwester, das Fehlen einer Vertrauensperson, ich weinte über den Seiten der Tagebücher, als ich über meine Einsamkeit schrieb. Über die Angst, das Leben nicht kontrollieren zu können. Ich weinte, bis alle Zeilen verschwommen waren.

Warum ich diesen Text hier schreibe? Weil es sich lohnt. Es lohnt sich, sich dieser Fragen zu stellen. Ich möchte so gerne Mut machen und motivieren, sich dieser Fragen zu nähern. Alle – und ich weiß, dass es viele sind, die diese Verbindung und Liebe zu ihrem Körper verloren haben: ihr seid nicht allein. Aber ihr seid es, die die Zügel in die Hand nehmen müssen. Auch wenn es nicht immer leicht fällt, sich zu motivieren, wenn man schwach ist, geistig und körperlich: sucht euch Gleichgesinnte, motivierende Partner auf dem Weg. Lasst euch nicht ermüden von eurer Krankheit. Tanzt, macht Musik (ich bin zufällig auch noch Musikerin geworden, das hilft natürlich ungemein), macht Rückschritte (auch das kommt vor, nicht jeder Tag ist heiter Sonnenschein), aber macht! Macht euch auf die Reise. Beginnt, euch zu entdecken, zu spüren, mit all euren Sinnen, mit all euren Gefühlen. Diese Krankheit ist nie richtig überwunden. Der Körper bleibt der unmittelbare Hebel der Innenwelt. Ich musste lernen, mich auszudrücken. Meiner Trauer, meiner Wut, meiner Enttäuschung, ein anderes Ventil zu bieten als das des Hungerns. Ich musste lernen, Freude empfinden zu dürfen. Lust. Lachen. Ich fing an Musik zu machen. Songs zu schreiben. Ich packte all die Gefühle in meine Musik und das tue noch heute. Wenn ich am Klavier sitze, vergesse ich alles um mich herum. Ich bin im Moment. Und übe genau das jeden Tag: im Moment zu bleiben. Mir nicht über Dinge, die ich nicht ändern kann, den Kopf zu zerbrechen - dazu zählt auch meine Vergangenheit oder Kindheit oder Verletzungen in der Gegenwart. Ich male, weil es noch ein weiteres Ventil für meine Empfindungen ist. Ich erlaube mir heute, so fühlen zu dürfen wie ich mich manchmal fühle: Verletzlich. Unsicher. Aber auch: Freudig. Aufgeregt. Herzlich. Geliebt.

Ich fühle mich heute – geliebt. Auch das war ein langer Weg und eine wunderbare Entdeckung meiner Reise. Würde ich ein Buch darüber schreiben, würde ich es wohl nennen „Wie ich erfuhr, dass ich krank bin, und wie ich anfing, gesund zu werden“.

Die Deutsche Rheuma-Liga - Landesverband Thüringen e. V. bedankt sich herzlich bei
Phela (www.phela.de)
für diesen Beitrag und ihre Unterstützung.

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